Loslassen oder Laisser-faire?

Kommt es zum Thema »Aufwachsen ohne Erziehung« entstehen immer wieder Missverständnissen, was darunter zu verstehen ist. Es irritiert und ruft sofort Stichworte wie »Laisser-faire«, »grenzenlos« und »Vernachlässigung« auf den Plan. Das verlangt nach einer Begriffsklärung.

Ariane Brena

Menschen, die eine Erziehungshaltung verinnerlicht haben, bei der ihre Integrität selbstverständlich und systematisch verletzt oder bedroht wurde, sind in der Regel stark irritiert, wenn sie mit »unerzogenen« Kindern zusammentreffen. Kinder, die frei heraus äußern, was ihnen gefällt und was nicht, die sich viel freier bewegen und bemerkbar (also zum Beispiel hör- und sichtbar) machen als es diesen »erzogenen« Menschen angemessen erscheint, lösen dann polarisierende Kommentare, Diskussionen, unwirsche Reaktionen oder auch direkte erzieherische Maßnahme aus.

Solche Diskussionen, zum Beispiel zwischen Eltern bzw. Großeltern und den jungen Eltern der nächsten Generation, schaukeln sich leicht hoch und können bis hin zu jahrelangen Kontaktabbrüchen eskalieren. Es wird darum gestritten, was richtig und was falsch ist, was »geht« und was »unmöglich« ist, was den Kindern (»später einmal«) schadet und was ihnen nützt und so weiter.

Das liegt unter anderem daran, dass beide streitenden Seiten an der Idee festhalten, es gebe ein Richtig und ein Falsch in der Erziehung beziehungsweise Begleitung von heranwachsenden Menschen. Eine Alternative zu diesem Gedanken-Konzept wäre, sich auf die jeweiligen Bedürfnisse zu konzentrieren, die sich hinter plakativen Zuschreibungen (»Eure Kinder dürfen alles! Die kennen ja keine Grenzen!« oder »Ihr lebt einfach hinter dem Mond! So wie ihr kann man heute nicht mehr mit Kindern umgehen!«) verbergen. Wer es schafft, sich auf Bedürfnisse zu fokussieren, entdeckt meist schnell, dass die Anliegen der verschiedenen Seiten gar nicht so weit auseinander liegen. Eltern wie Großeltern wollen, dass es den Kindern gut geht und sie gut in ihrem Leben zurechtkommen. Und jeder der Beteiligten hat auch eigene Bedürfnisse, die im Zusammensein mit den Kindern von Belang sind: nach Respekt, Ruhe und Harmonie zum Beispiel oder danach, sich mit der eigenen Lebenserfahrung einzubringen und dafür Wertschätzung zu bekommen.

Es wird darum gestritten, was richtig und was falsch ist, was »geht« und was »unmöglich« ist, was den Kindern schadet und was ihnen nützt.

In meiner eigenen Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Erziehungs-Stilen wurde mir nach und nach klar, dass Vertrauen und Verantwortung zentrale Werte sind, um die es nicht nur in meinem Leben geht, sondern die auch diesen Debatten zugrunde liegen. Und dass insofern ein als Laisser-faire bekannt gewordenes Verhalten von Eltern und anderen Bezugspersonen nicht meine Antwort auf die Gehorsams-Erziehung sein kann, der ich selbst ausgesetzt war. In der folgenden Gegenüberstellung will ich zeigen, was mit Laisser-faire im Unterschied zu Loslassen gemeint ist.

Laisser-faire ist nicht dasselbe wie Bedürfnis-Orientierung

»Laisser-faire« heißt wörtlich »machen lassen« – und bedeutet doch nicht dasselbe wie »loslassen«. Es ist ein Verhalten von Eltern gemeint, die einfach alles mit sich machen lassen und dann unter dem Verhalten ihrer Kinder genauso leiden wie die Nachbarn und die Spielgefährten oder Mitschüler – und wie die Kinder selbst. Diese Eltern spüren ihre eigenen Grenzen nicht oder gehen selbst über diese Grenzen hinweg, auch wenn sie merken, was ihnen »gegen den Strich geht« ‒ mitunter bis zur totalen Erschöpfung.

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