Die Bedeutung vom Reden für das Lernen

Dürfen Kinder reden während des Unterrichts? Nun, vorgesehen ist es häufig nicht. Auch Fragen stellen ist nicht unbedingt erwünscht. Dabei sind Reden, Zuhören, Fragen stellen und beantworten essenzielle Werkzeuge menschlichen Lernens – sowohl bei Kindern als auch bei Lehrpersonen. Von einer immer noch unterschätzten Kunst.

Rolf Robischon

Schule findet in der Regel in einem Gebäude mit vielen Schulzimmern statt. Die Türen gehen nach außen auf und an der Tür steht, welche Klasse darin unterrichtet wird. Unterricht fängt an, wenn die Lehrperson den Raum betreten hat und auf Ruhe wartet, um mit einer Formel den Unterricht beginnen zu können. Die Kinder, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, die unterrichtet werden sollen, müssen aufhören zu reden, damit der Unterricht beginnen kann. Beginnen heißt anfangen. Später hört er auch wieder auf.

Die jungen Menschen haben vorher geredet.

Reden stört den Unterricht

Bei der Einschulung haben die Kleinen erlebt, dass der|die|das Lehrer|in|y zunächst mal den Zeigefinger über den Mund legt. Vielleicht gibt er|sie|es auch einen Zischlaut von sich. Das heißt: Ruhe. Wären nicht so viele Eltern und Großeltern dabei und Paten, Onkel, Tanten, Geschwister, dann würde er|sie|es vielleicht kurz aufschreien »Ruhe«.

Sonst würden sie nicht zuhören. Unterricht besteht aus Zuhören und Aufmerksamkeit.

Unterricht ist anstrengend. Redet die unterrichtende Person viel und eintönig und schaut dabei die Kinder oder Jugendlichen nicht an, passiert es ganz leicht, dass die Zuhörenden den Faden verlieren. Sie haben bei einem besonderen Wort aufgehorcht. Das kannten sie noch nicht oder es war ein Wort, das sie besonders mögen oder hassen oder sie kennen eine Geschichte um dieses Wort. Sie haben den Rest vom Unterrichtstext schon verpasst. In traditioneller Schule nennt man sowas Unaufmerksamkeit. Das abgelenkte Kind würde jetzt zu gerne mit einem anderen Kind über das reden, was es bewegt.

Redet die unterrichtende Person fröhlich, unterhaltsam, zugewendet und schaut dabei die Kinder, möglichst viele Kinder, an, dann geht es eigentlich auf die gleiche Art. Das lernende Kind wird auf eine Redewendung, ein Wort aufmerksam. Wie schön wäre es, wenn jetzt das Kind die Unterrichtsperson etwas fragen könnte. Das geht leider nicht. Sowas stört den Unterrichtsablauf und hält das Belehren auf.

Eltern kann man das beschreiben als: Das Kind ist nicht dumm, aber es lässt sich leicht ablenken. Es ist unaufmerksam. Es sollte sich besser konzentrieren.

Unterricht besteht aus Zuhören und Aufmerksamkeit – Gespräche und Fragen stören.

Unterricht ist vorgesehen für die Schule. Vorher sind Kinder unwissend, nachher sind sie unterrichtet. Jedenfalls steht das im Klassenbuch, in das die Lehrperson eintragen soll, was heute dran war.

Wie Lernen stattfinden soll

Oh je. Wenn Lernen so tatsächlich stattfinden würde, könnte man Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen unglaublich viel unterrichten. Weil es in Wirklichkeit nicht so einfach ist, zerlegt man das zu unterrichtende Wissen in kleine Bröckchen, verabreicht es in kleinen Schrittchen, mit allerlei Tricks. Und überprüft immer wieder, wieviel von dem Unterricht bei den jungen Menschen angekommen ist. Die Lehrperson prüft und fragt. Kinder, die Fragen stellen, sind auf jeden Fall lästig. Sie halten das Verfahren auf. Die Lehrperson ist auf die Fragen nicht vorbereitet. Andere Kinder lachen, wenn ein Kind im Unterricht etwas fragt. Die Frage unterbricht den vorbereiteten Ablauf. Die Zwischenfragen sind nicht wichtig für den Unterricht. Das Kind ist nicht wichtig für den Unterricht. Es soll nicht einsprechen. Es soll sich unterrichten lassen und aufpassen, damit es hinterher zum Lehrstoff befragt werden kann.

Kinder und Jugendliche, die sich während des Unterrichts oder während eines Tests unterhalten wollen, werden daran gehindert. Das nennt man pädagogische Maßnahmen. Früher waren das Schläge oder Strafarbeiten. Heutzutage sind es eben Maßnahmen. Vielleicht wird ein störendes Kind zu einem kranken Kind erklärt. Es soll etwas bekommen das seine Aufmerksamkeit verbessert. In vielen Fällen ist das ein Mittel zur Aufmerksamkeitssteigerung.

Das, was es durch seine eigenen Gedanken, die Unaufmerksamkeit verpasst hat am Unterrichtsablauf, soll es nachholen. Nachholunterricht heißt Nachhilfe. In Deutschland wird wöchentlich so viel Geld für Nachhilfe ausgegeben, dass man damit allerhand teure Waffen kaufen könnte oder jede Menge geförderte Wohnungen bauen könnte.

Wenn ein Kind oder jugendlicher Mensch Nachhilfe bekommen muss, um auf dem Stand der Klasse zu sein oder auf dem was die Lehrperson sich dazu vorstellt, ist das peinlich für Eltern und sie suchen Schuldige. Die Lehrperson ist zu anspruchsvoll oder zu nachgiebig, zu streng oder zu freundlich, erwartet zu viel oder zu wenig, unterrichtet zu schnell oder zu langsam. Der Lehrstoff, der vom Ministerium in einem Lehrplan vorgegeben wird, ist schuld. Die alltäglichen Ablenkungen denen junge Menschen ausgesetzt sind, sind schuld. Was gibt’s denn noch?

Mit Hilfe von Nachhilfe und womöglich Medikamenten kommt das Kind, dessen Eltern sich sowas finanziell, zeitlich und nervlich leisten können, im Unterricht mit, erarbeitet sich am liebsten einen Vorsprung und bekommt gute Noten.

Gute Noten sind für viele Menschen das Ziel von Unterricht. Die besten Noten sind Erfolg.

Wie Lernen tatsächlich stattfindet

Lernen ist, wenn ein Kind oder jugendlicher Mensch etwas vorher nicht wusste, konnte oder verstanden hatte und all das nachher weiß, kann und versteht.

All das was ein Kind lernt, erfindet es für sich selbst aus dem, was es wahrgenommen, gesehen, gerochen, gehört, begriffen, erfragt hat und womit es für sich Zusammenhänge gefunden hat. Was es erfunden hat, hat mit ihm selbst zu tun. Das Kind ist die Hauptperson beim Lernen.

Lernen findet selbstständig und mit anderen statt. Und vor allem immer.

Als ich das gesehen hatte, habe ich es selbstorganisiertes kooperatives Lernen genannt, habe nicht mehr unterrichtet und Ärger bekommen. Ein Lehrer, der nicht unterrichtete, sondern behauptete, Kinder würden von selbst lernen, war für die Unterrichtsbehörden ein Ärgernis. Noch dazu verbreitete ich die Behauptung: Kinder lernen nicht in kleinen Schrittchen, nicht der Reihe nach, nicht gleichzeitig und schon gar nicht das Gleiche.

Mit sowas lässt sich doch kein Unterricht abhalten für eine Klasse!

Schulbehörden lassen das nicht durchgehen und senden Kontrollbeamt|innen|ys aus, die hinten im Klassenzimmer sitzen, beobachten und mitschreiben. Es müssen immerhin Berichte angefertigt werden.

Der Lehrer unterrichtet nicht, die Kinder arbeiten an unterschiedlichen Dingen, gehen umher, fassen alles an, machen die Schränke auf, holen sich Material und reden unablässig mit den anderen Kindern und mit dem Lehrer (halt, nein, mit dem Lernbegleiter). Und wenn da andere Erwachsene sitzen, reden sie auch mit denen. Schulrätinnen, die selbst gerne in der Schule mit Kindern gearbeitet hatten, freuten sich über solche Zuwendung und so viel Interesse. Verwaltungsbeamt|innen|ys, die bei Kontrollbesuchen eine ganz andere Atmosphäre gewohnt waren, zeigten sich irritiert, weil normalerweise die Lehrperson unterrichtet und die Kinder brav zuhören.

Die Kinder arbeiten an unterschiedlichen Dingen, gehen umher, fassen alles an, machen die Schränke auf, holen sich Material und reden miteinander.

Sie hätten auch bei Hirnforscher|innen|Hirnforschys, Kinderpsycholog|innen|ys, Kinderärzt|innen|ys nachlesen können, was diese über Lernabläufe erkannt und geschrieben haben. Die haben allerdings nicht mit Kindern direkt in der Schule gearbeitet.

In der üblichen Schule gibt es Pädagogik (Kinder führen) und Didaktik (Belehren). In einer Lernumgebung, in der Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene selbstständig und miteinander lernen, gibt es Epistemologie (die Lehre davon, wie Wissen entsteht) und Mathetik (Lernen lassen).

Ob ich übliche Schule erlebe oder Lernumgebung, höre ich daran, wer spricht und wieviel gesprochen wird. Zum selbstständigen Lernen gehört Reden, Sprechen, sich unterhalten und vor allem Fragen stellen unbedingt dazu. Die Lernumgebung um selbstständig und miteinander lernende Kinder und Jugendliche herum hört sich an wie ein Baum voller Spatzen.

Und was macht der|die|das Lernbegleiter|in|Lernbegleity in so einer Lernumgebung?

Er|Sie|Esfindet möglichst viele Lernanlässe, entdeckt Lerngelegenheiten, stellt Lernmaterial zur Verfügung, schützt Kinder und Jugendliche vor Belehrung und Unterricht und redet nur, wenn er gefragt wird. Für ausgebildete Lehrer|innen|Lehrys ist es nicht einfach, sich auf solche Bedingungen einzustellen. Manche Wortlaute fallen einfach weg, der Umgang mit Lernenden ändert sich völlig und Lernergebnisse werden nicht mehr vorhergesagt und abgeprüft, sondern einfach geduldig und zuversichtlich abgewartet.

Aufmerksamkeit

Aufmerksamkeit war in einer üblichen Schule mit Belehrung, Unterricht und ständigem Kontrollieren und Prüfen das, was die Kinder und Jugendlichen aufbringen sollten. Sie äußerte sich im Stillsitzen, Zuhören, nicht Dazwischenreden. Im Aufpassen auf das, was unterrichtet wurde und im Merken, damit das Unterrichtete wieder abgefragt werden konnte.

In einer neuen Schule, in einer lebendigen Lernumgebung wird von Lernbegleiter|innen|Lernbegleitys Aufmerksamkeit erwartet. Achtung gegenüber all diesen Kindern und Jugendlichen und Aufmerksamkeit für ihre Fragen, ihre Lernwege und -umwege, ihre Irrtümer und Misserfolge, ihre eigenen Bearbeitungen und Richtigstellungen. Zu der Aufmerksamkeit gehört auch das Mitfreuen über besondere Erfindungen und Entdeckungen.

Mangelnde Aufmerksamkeit, das sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit, ist also nicht bei Kindern und Jugendlichen zu suchen, sondern eher bei den Erwachsenen, die Kinder und Jugendliche bei ihrem Lernen begleiten sollen.

Wer diese Aufmerksamkeit lernen will, kann z. B. diesen Text lesen. Medikamente gibt es nicht dafür. Ich habe diese Aufmerksamkeit beim Zuschauen und Zuhören gelernt. Wie Kinder lernen, ist ganz deutlich zu hören. Es hört nicht mehr auf.

Rolf Robischon

ist Autor, Cartoonist, Lernbegleiter und Diplompädagoge. Er war vierzig Jahre im Schuldienst tätig, davon über dreißig Jahre als Rektor einer Grundschule. Heute schreibt er und hält Vorträge über seine Arbeitsweise mit seinen Schüler:innen, Lernen und das Begleiten selbigen. Als Autor und Cartoonist hat er Lernhefte zum selbstständigen Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen entwickelt und Sachbücher geschrieben, die im tologo verlag publiziert werden.

pexels.com

G
  • Entgendern:
  • y & ys 👈
  • Gendern:
  • :innen
  • *innen
  • _innen
  • /innen
  • Zum Spaß:
  • 🏳️‍🌈innen
  • ✨innen
  • 💕innen