Die Kräfte gegen grundlegende Veränderungen im Bildungswesen

Peter Gray

Viele Menschen haben heute begriffen, dass freies Spiel und das Erkunden der Welt, einen hohen Wert für das Aufwachsen von Kindern haben. Schaut man auf die konventionelle Schulbildung entsteht der Verdacht, dass diese Erkenntnis an ihr schlicht vorbeigegangen ist oder ignoriert wird. Warum könnte das so sein? Und warum müssen daher Bildungsreformen außerhalb des Schulsystems stattfinden?

Heute verstehen viele Menschen den erzieherischen Wert von freiem Spiel und Erforschen. Sie bedauern, dass Kindern relativ wenig Gelegenheit für solche Aktivitäten geboten wird, und glauben, dass der Wille der Kinder eine positive Kraft für ihre Entwicklung, Bildung und Lebensfreude ist. Doch Schulen machen weiter wie bisher. Tatsächlich nehmen die konventionelle Schulbildung und andere Aktivitäten, die von Erwachsenen nach dem Vorbild dieser Schulbildung durchgeführt werden, einen immer größeren Teil der Zeit unserer Kinder in Anspruch. Warum ist es so schwierig, diesen Trend umzukehren? Warum ist es so schwierig, grundlegende Veränderungen im Schulsystem herbeizuführen? Ich gebe nicht vor, die vollständige Antwort auf diese Frage zu kennen, aber hier ist ein Abriss meiner Gedanken zu den Kräften, die es so schwierig machen, das Bildungssystem grundlegend zu verändern.

Die Normalität der konventionellen Beschulung

Wie Sozialpsycholog|innen|ys häufig betonen, unternehmen Menschen erstaunliche Anstrengungen, um normal zu erscheinen. Verhalten wir uns anders als die Norm, können andere uns ablehnen, und nichts ist für uns als soziale Wesen schlimmer als Ablehnung. Wenn jeder in einer Kultur den Mädchen die Füße einbindet und sie damit im Grunde genommen verkrüppelt, dann tun das sogar Eltern, die nicht an diese Praxis glauben, damit ihre Töchter nicht seltsam aussehen. Wenn alle Kinder in der Nachbarschaft auf eine konventionelle Schule gehen, dann kann das Kind, das etwas ganz anderes tut, als seltsam angesehen werden, und die Eltern können nicht nur als seltsam, sondern auch als nachlässig eingestuft werden.

Ein Beweis dafür, wie sehr wir heute Kinder mit der konventionellen Schulbildung in Verbindung bringen, ist fast jedes Gespräch (oder jeder Versuch eines Gesprächs) zwischen einem Erwachsenen und einem Kind, das der Erwachsene gerade erst kennengelernt hat: »In welche Klasse gehst du?« »Was ist dein Lieblingsfach?« »Magst du deine Lehrer?« »Gehst du gern in die Schule?« Wir müssen ganz neue Wege finden, um mit Kindern zu sprechen, die nicht auf eine solche Schule gehen.

Neue Schulen, die sich auf Prinzipien gründen, die sich sehr von denen herkömmlicher Schulen unterscheiden, ziehen relativ wenige Schüler|innen|Schülys an. Selbst aus den Reihen derjenigen, die an die Prinzipien glauben, weil sie Angst davor haben, etwas zu tun, was unnormal aussieht. Kinder, die sich für den Besuch einer solchen Schule entscheiden, brauchen viel soziale Unterstützung, um dieser Angst entgegenzuwirken, und ihre Eltern brauchen noch mehr davon.

Die sich selbst erfüllenden Prophezeiungen der konventionellen Schulbildung

Die konventionelle Schulbildung hat Denk- und Handlungsweisen befördert, die ihre eigenen Prämissen in sich selbst erfüllende Prophezeiungen verwandeln. Die Prämissen scheinen wahr zu sein, weil wir sie im Kontext der konventionellen Schulbildung und nach den von dieser Schulbildung aufgestellten Kriterien bewerten.

Die Zukunft der Bildung gibt keinen Grund, uns entmutigen zu lassen.

Hier ist ein Beispiel für eine solche Prämisse: Schulen müssen Kinder zum Lernen motivieren. Ich habe unzählige Male Eltern getroffen, die glauben, dass unkonventionelle Schulen wie die Sudbury Valley School für »selbstmotivierte Kinder« in Ordnung sind, aber nicht für ihre Kinder, weil ihre Kinder »nicht selbstmotiviert« sind. Und die Kinder selbst glauben das auch oft. Sie sagen Dinge wie: »Ich brauche Lehrer, die mir in den Hintern treten, sonst mache ich den ganzen Tag nichts.« Warum haben die Menschen in unserer Kultur diese Wahrnehmung, dass Kinder im Schulalter nicht viel lernen, wenn man sie sich selbst überlässt? Fast niemand hat diese Wahrnehmung von Kindern, die jünger sind als Schulkinder und Jäger|in|Jägys und Sammler|in|Sammlys haben diese Wahrnehmung von Kindern jeden Alters ebenfalls nicht.

Ein Grund für die Wahrnehmung, dass Kinder im Schulalter nicht motiviert sind, selbstständig zu lernen, liegt darin, dass in unserer Kultur die Definition des Lernens im Schulsystem allgemein akzeptiert ist. Wenn Lernen definiert wird als das Erledigen von Schulaufgaben oder Arbeiten, die den Schulaufgaben sehr ähnlich sind, dann ist es sicherlich richtig, dass Kinder, die »unbeschult« sind oder Sudbury-Schulen besuchen, wenig Zeit mit »Lernen« verbringen. Stattdessen verbringen sie ihre Zeit damit, auf unvorhersehbare Weise zu spielen und zu erforschen, und als Nebeneffekt nehmen sie das Wissen und die Fähigkeiten unserer Kultur auf.

Ein weiterer Grund für diese Wahrnehmung ist, dass Kinder, die ihren Tag an einer konventionellen Schule damit verbringen, Tests abzulegen und Arbeiten zu erledigen, die sie nicht machen wollen, am Ende des Tages ihre Freizeit nutzen, sich zu entspannen oder sich auszutoben, ähnlich wie ihre Eltern nach einem stressigen Arbeitstag. Dies beeinträchtigt die Möglichkeit, sich voll und ganz auf die Art von Spielen, Erkundungen und Gesprächen einzulassen, die wir am ehesten als bildend bezeichnen könnten.

Ein weiteres Beispiel für eine sich selbst erfüllende Schulprophezeiung ist: Gute Leistungen in der Schule sagen den späteren Erfolg voraus. Wir haben diese Prophezeiung in die Tat umgesetzt, indem wir eine Welt für Kinder geschaffen haben, in der wir »Erfolg« im Wesentlichen als gute Leistungen in der Schule definieren. Die Aufgabe der Kinder ist es, in der Schule gute Noten zu bekommen, und dafür gibt es viele Belohnungen. Gute Noten sind die Garanten für den Aufstieg in die nächste Stufe des benoteten Schulsystems, für die Einstufung in die »Ehrenliste«, für die Berechtigung, Sport zu treiben, für den Eintritt ins College, für Nominierungen in begehrte Clubs, für Lob von Erwachsenen und so weiter. Nach all diesen Erfolgsmaßstäben sagt natürlich eine gute Leistung in der Schule (gemessen an den Noten) den späteren Erfolg voraus.

Wir werden auch ständig mit Statistiken bombardiert, die Korrelationen zwischen den Jahren der Schulbildung und dem beruflichen Erfolg, gemessen am Einkommen, aufzeigen. Aber es gibt viele Gründe für diese Korrelationen, die nichts mit Lernen zu tun haben. Hier sind drei solcher Gründe:

(1) Wir haben eine Welt geschaffen, in der bestimmte hochbezahlte Berufe, wie Jura, Medizin und Betriebswirtschaft, in der Regel eine bestimmte Anzahl von Jahren Hochschulbildung erfordern. In einer solchen Welt korrelieren die Jahre der Schulbildung unweigerlich mit dem Einkommen.

(2) Wir haben eine Welt geschaffen, in der »Erfolg« mehr oder weniger als gute Noten in der Jugend und später als hohes Einkommen definiert wird. In einer solchen Welt werden die Menschen, die nach herkömmlichen Maßstäben hoch leistungsmotiviert sind, hart für gute Noten in der Schule und für Geld im Erwachsenenalter arbeiten; und voilà, wir haben den Zusammenhang. Wir haben auch eine Welt geschaffen, in der nur sehr wenige Menschen keine konventionellen Schulen besuchen, sodass Eltern und Kinder nur wenige Vorbilder haben, an denen sie sich auf einem anderen Weg zum Erfolg orientieren können.

(3) Kinder aus wohlhabenden Familien können sich mehr Schulbildung leisten als Kinder aus ärmeren Verhältnissen, sodass sie mehr Schulbildung erhalten. Kinder aus wohlhabenden Familien haben auch mehr Möglichkeiten für hoch bezahlte Jobs, da sie Familienbeziehungen und viele andere Vorteile haben als Kinder aus ärmeren Verhältnissen. Auch dies trägt dazu bei, die Korrelation zwischen den Jahren der Schulbildung und dem späteren Einkommen herzustellen.

Aus diesen und anderen Gründen ist eine allgemeine Korrelation zwischen Schulbildung und »Erfolg« in der Welt, die wir aufgebaut haben, unvermeidlich. Es gibt keine statistische Möglichkeit zu belegen, dass irgendeine dieser Korrelationen überhaupt etwas mit dem zu tun hat, was tatsächlich in der Schule gelernt wird.

Die Verankerung der Bildung als Geschäft

Ein weiterer Grund für die Trägheit, die einem wirklichen Wandel in unserem Bildungssystem entgegenwirkt, hat mit dem massiven, tief verwurzelten Charakter der Bildungseinrichtung an sich zu tun. In den Vereinigten Staaten verdienen derzeit 6,8 Millionen Menschen ihren Lebensunterhalt als Lehrer|innen|Lehrys (U.S. Census Bureau). Entgegen der landläufigen Meinung wird das Unterrichten besser bezahlt als der durchschnittliche Angestellte oder Berufstätige (Greene & Winters, 2007) und bietet viele andere Vorteile, darunter in der Regel Arbeitsplatzsicherheit, ausgezeichnete Rentenpläne und viel Urlaub. Lehranstalten, die Lehrer|innen|Lehrysfür konventionelle Schulen ausbilden, machen einen großen Teil der höheren Bildungseinrichtungen aus. Auch die Schulbuchindustrie ist massiv und lukrativ. Eine radikale Veränderung in unserem Bildungssystem würde all dies durcheinanderbringen. Eine solche Veränderung würde unseren Bedarf an Lehrer|innen|Lehrys, wie dieser Beruf gegenwärtig definiert wird, abschaffen. Sie würde auch unseren Bedarf an Bildungseinrichtungen und den größten Teil, wenn nicht gar unseren gesamten Bedarf an Lehrbüchern abschaffen.

Gute Leistungen in der Schule definieren wir mit »Erfolg«.

Viele Menschen in unserer Kultur haben ein wirtschaftliches Interesse daran, konventionelle Bildung nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern zu erweitern. Je mehr Stunden und Jahre wir von den jungen Menschen verlangen, zur Schule zu gehen, desto mehr Lehrer|innen|Lehrys, Schulverwalter|innen|verwaltys, Bildungsprofessor|innen|professorys, Schulbuchautor|innen|autorys und Verleger|innen|Verlegys können wir einstellen. Das Bildungswesen ist wie jedes Unternehmen: Es versucht ständig zu expandieren, zum Nutzen derer, die davon profitieren.

Die Bildungsindustrie lebt von kleinen Veränderungen und Modeerscheinungen. Neue Ideen, wie man Kinder motivieren kann, neue Kurse und neue Wege, alte Kurse zu unterrichten (wie z. B. die »neue, neue, neue Mathematik«), bieten Arbeitsplätze für Bildungsexpert|innen|ys und Schulbuchverlage. Aber eine grundlegende Veränderung würde alles durcheinanderbringen.

Allmählicher Wandel funktioniert nicht

Ein weiteres Hindernis für die Veränderung in der Schulbildung, von der ich gesprochen habe, ist, dass sie nicht schrittweise innerhalb einer Schule oder eines Schulsystems erfolgen kann. Der Wandel erfordert einen Paradigmenwechsel, von dem Paradigma, bei dem die Lehrer|innen|Lehrys für den Bildungsprozess verantwortlich sind, hin zu dem, bei dem jede|r|jedes Schüler|in|Schüly wirklich für seine eigene Bildung selbst verantwortlich ist. Das kann man nicht allmählich tun. Solange Lehrer|innen|Lehrys einen Lehrplan festlegen, egal wie viele Wahlmöglichkeiten sie innerhalb dieses Lehrplans anbieten, werden es die Schüler|innen|Schülys als die Aufgabe der Lehrer|innen|Lehrys und nicht als ihre Aufgabe sehen, zu entscheiden, was sie lernen wollen. Solange Lehrer|innen|Lehrys den Fortschritt der Schüler|innen|Schülys bewerten, egal wie sie dies tun, werden die Schüler|innen|Schülys sehen, dass es ihre Aufgabe ist, die Erwartungen der Lehrer|innen|Lehrys zu erfüllen, und nicht, ihre eigenen Erwartungen festzulegen und zu erfüllen.

Tatsächlich können mehr Wahlmöglichkeiten und weniger klar definierte Mittel zur Bewertung innerhalb des konventionellen Schulsystems das Leben der Schüler|innen|Schülys noch stressiger machen als zuvor. Nach solchen »liberalen« Veränderungen wird es zur Aufgabe eines|einer|eines jeden Schüler|in|Schüly, zu erraten, was die Lehrer|innen|Lehrys von ihm:r erwarten und die wirklichen, unausgesprochenen Kriterien für die Bewertung. Die Schule wird zu einer Übung im Gedankenlesen. Ich bin überzeugt, dass man im konventionellen Schulsystem am besten unterrichtet, indem man über die Anforderungen und Kriterien so klar wie möglich ist, damit die Schüler|innen|Schülys diese Anforderungen und Kriterien erfüllen können, ohne befürchten zu müssen, dass sie vielleicht die falschen Dinge lernen.

Man kann auch nicht erwarten, innerhalb des konventionellen Schulsystems die Bewertung und einen Kurs nach dem anderen, Stück für Stück, abzuschaffen. Angenommen, jemand leitet einen Kurs, in dem die Studierenden nicht benotet werden. Diese Person wird feststellen, dass die meisten Studierenden in diesem Kurs nichts tun werden, selbst wenn sie es wollen würden. In einem System, in dem andere Kurse benotet werden, wird der nicht benotete Kurs als irrelevant verstanden. Wie kann ein|e|ein gute|r|gutes Student|in|Studenty es rechtfertigen, Zeit für einen nicht benoteten Kurs aufzuwenden, wenn andere Kurse benotet werden? Um diese Denkweise zu ändern, muss sich das ganze System ändern.

Wie der Wandel stattfindet

Ein grundlegender Wandel im Bildungswesen vollzieht sich jedoch außerhalb des traditionellen Schulsystems. Er vollzieht sich bei Familiengruppen, die beschließen, ihre Kinder zu »entschuldigen« (d. h. sie kostenlos zu Hause zu unterrichten, wo es keinen Lehrplan und keine Evaluierung gibt) und bei Menschen, die Freie Schulen gründen, wie z. B. die nach dem Vorbild der Sudbury Valley School . Die Menschen in diesen Bewegungen etablieren untereinander neue soziale Normen, die es ihnen ermöglichen, die Barrieren zu überwinden, die sie daran hindern, sich in einer Weise zu verhalten, die anderen als anormal erscheint. Ihre Beobachtungen von Kindern, die sich selbst bilden, führen dazu, dass sie Bildung in einem neuen Licht sehen, als etwas, das man bei Kindern bewundern und genießen, aber nicht kontrollieren kann. Sie beginnen, viele Beispiele von Menschen zu sehen, die sich außerhalb des konventionellen Schulsystems frei und glücklich gebildet haben und ein erfolgreiches Leben nach jeder sinnvollen Definition von Erfolg geführt haben, und so werden die sich selbst erfüllenden Prophezeiungen der konventionellen Schulbildung als das verstanden, was sie sind.

Wir haben keinen Grund, uns wegen der Zukunft der Bildung, entmutigen zu lassen. Wir müssen nur erkennen, dass es innerhalb des etablierten Schulsystems keine wirklichen Reformen geben wird. Sie werden weiterhin außerhalb dieses Systems stattfinden. Der allmähliche Wandel, der sich vollziehen wird, besteht darin, dass immer mehr Menschen aus der konventionellen Schulbildung aussteigen werden. Um dies zuzulassen, müssen wir sicher sein, dass die Menschen das gesetzliche Recht haben, aus der Schule auszusteigen. Auf politischer Ebene sollte dies die höchste Priorität für diejenigen von uns sein, die eine Welt suchen, in der sich Kinder frei und glücklich entwickeln können, mit der vollen Erfahrung von Demokratie und den Rechten und Pflichten, die Demokratie mit sich bringt. ■

Peter Gray

ist Professor für Psychologie am Boston College . Er schreibt für die Psychology Today und betreibt den Blog Freedom to Learn . Er forscht und schreibt heute über das natürliche Lernen bei Kindern und die Rolle des lebenslangen Spielens. Er ist Autor des Buchs Befreit Lernen .

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Sabine Reichelt

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