Freie Schule oder Demokratische Schule?

Freie Alternativschulen und Demokratische Schulen teilen viele gemeinsame Werte. Dennoch gibt es Unterschiede. In der Formulierung wirken diese Unterschiede subtil und ihre Betonung mag übertrieben wirken. Sie zu ignorieren ist jedoch nicht ratsam, denn in ihrer Wirkung sind diese Unterschiede fundamental.

Henning Graner

In der Einführung zu dieser Artikelserie (»Interpretationen Demokratischer Schulen« –unerzogen Magazin 1/2018) wurde die Notwendigkeit einer Theorie der Demokratischen Schulen begründet. Die Vielfalt Demokratischer Schulen lässt sich nicht auf eine einzige Definition reduzieren, aus der man ein eindeutiges »Modell« einer Demokratischen Schule ableiten könnte. Erst eine Theorie ist hinreichend offen, um verschiedene Interpretationen einer Demokratischen Schule beschreiben zu können. Dennoch wird man auf den abgrenzenden Charakter von Definitionen nicht verzichten können – sonst läuft man Gefahr, dass der Begriff der Demokratischen Schule beliebig wird.

In diesem Artikel geht es um eine solche Abgrenzung. Es wird untersucht, worin sich die Demokratischen Schulen von den Freien Alternativschulen unterscheiden. Diese Abgrenzung ist notwendig, gerade weil diese Schulen in vielerlei Hinsicht große Ähnlichkeiten aufweisen. Aufgrund dieser Ähnlichkeiten entstehen leicht jene Missverständnisse, die innerhalb einer Schule zu schweren Spannungen im Kollegium und der Schulgemeinschaft führen können.

Es geht hier in erster Linie um eine begriffliche Abgrenzung – nicht um eine Grenzziehung zwischen den Menschen, die sich in unterschiedlichen Schulen mit ihren je unterschiedlichen Ansätzen engagieren. Die notwendige analytische Schärfe soll helfen, die Verwirrung aufzulösen, die mitunter entsteht, wenn man überrascht feststellt, dass man sich trotz ähnlicher Werte nicht mehr versteht.

Wer sich auf der Internetseite des Bundesverbands der Freien Alternativschulen umschaut, entdeckt viele Werte, die auch an einer Demokratischen Schule eine Rolle spielen. In ihrem Selbstverständnis sprechen die Freien Alternativschulen von selbstbestimmtem Lernen, von demokratischer Mitbestimmung und gegenseitigem Respekt. Demokratie, Eigenverantwortung, Gemeinschaft und Selbstverwaltung sind weitere Schlüsselbegriffe.

All diese Begriffe kann man auch zur Beschreibung Demokratischer Schulen verwenden. Folglich eignen sich diese Begriffe nicht, um den Unterschied zwischen Freien Alternativschulen und Demokratischen Schulen zu erfassen. Für die Beschreibung des Unterschieds zwischen Freien Alternativschulen und Demokratischen Schulen ist die Einführung eines weiteren Begriffs notwendig.

Freie Alternativschulen werden durch ein Team gesteuert

Freie Alternativschulen sind ihrerseits sehr vielfältig und es ist etwas gewagt, sie alle über einen Kamm zu scheren. Dennoch glaube ich, dass sie sich alle in einem entscheidenden Punkt von den Demokratischen Schulen unterscheiden.

Bei einer Freien Alternativschule haben erwachsene Menschen eine Idee davon, wie man ein bestimmtes pädagogisches Konzept umsetzt und wie man die Freiheit der Kinder schützt, sodass sie in einer Art und Weise lernen können, die ihnen selbst entspricht. Zu der Idee des pädagogischen Konzepts kann es auch gehören, dass Kinder demokratische Prozesse kennenlernen, beispielsweise indem sie in einer regelmäßigen Schulversammlung Probleme besprechen und Entscheidungen treffen.

Üblicherweise gibt es eine Gruppe von Erwachsenen, welche die Verantwortung für die Schule trägt. Häufig wird die Verantwortung unterteilt in Pädagogik und Geschäftsführung. Die Pädagogik wird von den Lehrerinnen, Lernbegleitern, Erziehern und Sozialarbeiterinnen verantwortet, die Geschäftsführung von entsprechenden Verwaltungsfachleuten. Vielleicht gibt es auch einzelne Personen, die mit Leitungsfunktionen betraut sind, eine Direktorin, einen pädagogischen Leiter, eine Geschäftsführerin. Wie auch immer die internen Strukturen einer einzelnen Schule ausgestaltet sind, entscheidend ist: Freie Alternativschulen werden wesentlich durch ein Team gesteuert.

Demokratische Schulen werden durch demokratisch legitimierte Organe gesteuert

Auch die Gründer einer Demokratischen Schule haben bestimmte Ideen, nach denen sie die Schule formen. Einen großen Teil ihrer Gestaltungsmacht geben sie jedoch mit Eröffnung der Schule an die Schulgemeinschaft ab. Wenn dies gelingt, ist es nicht länger Aufgabe eines Teams, eine bestimmte pädagogische Idee umzusetzen. Stattdessen ist es Aufgabe der Schulgemeinschaft, sich zu fragen, was sie verwirklichen will. Die Abgabe der Gestaltungsmacht an die Schulgemeinschaft ist kein einfacher Prozess, der von alleine läuft. Es gehört zur Aufgabe der Erwachsenen, diesen Prozess voranzutreiben und darauf zu achten, dass er nicht ins Stocken gerät.

An einer Demokratischen Schule sind alle Schüler und Schülerinnen am Souverän beteiligt.

Die Schulgemeinschaft selbst muss sich während dieses Prozesses darüber klar werden, was sie realisieren und wie sie dabei verfahren will. Es gibt keine Steuerung mehr von außen und auch keine Steuerung durch eine der Schulgemeinschaft zwar angehörigen, aber privilegierten Gruppe der Erwachsenen. Dennoch werden Demokratische Schulen gesteuert. Die Steuerung findet allerdings durch andere Instrumente statt: Demokratische Schulen werden wesentlich durch demokratisch legitimierte Organe gesteuert.

Ein Organ ist ein Gremium, welches einer Gemeinschaft von Menschen Handlungsfähigkeit verleiht. Es artikuliert den Willen der Gemeinschaft und trifft in ihrem Namen Entscheidungen. Demokratisch legitimiert ist ein Organ, wenn es durch Abstimmungen installiert und durch Wahlen besetzt wird. Solange die gleiche Zugänglichkeit für alle gewährleistet ist, sind auch andere Besetzungsverfahren denkbar, beispielsweise Losverfahren. Bei Organen, die aus allen Mitgliedern der Gemeinschaft bestehen, entfallen die Besetzungsverfahren natürlich.

Der Begriff der Souveränität

Zu den wichtigsten Organen einer Demokratischen Schule gehört die Schulversammlung. Sie kann ihrerseits bei Gründung der Schule konstitutiv festgelegt worden sein, beispielsweise in einer Satzung oder durch eine Verfassung. Eine Schulversammlung allein genügt jedoch nicht, um bereits von einer Demokratischen Schule sprechen zu können. Entscheidend ist die Frage nach der Souveränität. Wer ist der Souverän?

Der Begriff der Souveränität beschreibt die Möglichkeit und Fähigkeit zur Selbstbestimmung – im Gegensatz zur Fremdbestimmung. Souverän ist, wer willkürlich Entscheidungen treffen kann und dazu auch berechtigt ist.

In einer Demokratischen Schule bilden alle Teilnehmer zusammen den Souverän – oder haben zumindest einen wirksamen Anteil an der Souveränität. Je nachdem, welchen Kreis man zu den Teilnehmern zählt, gibt es unterschiedliche Ausprägungen Demokratischer Schulen: In der Demokratischen Schule von Hadera (Israel) haben beispielsweise die Eltern Stimmrecht in der Schulversammlung. Sie gehören damit zum Souverän der Schule. In Summerhill üben Eltern hingegen keinerlei Einfluss auf die Schule aus. Hier gehören die Eltern nicht zum Souverän der Schule. Unstrittig ist allerdings, dass die Schülerinnen und Schüler zum Kreis der Teilnehmer einer Schule gehören. In einer Demokratischen Schule müssen sie folglich Anteil an der Souveränität haben.

Wer ist der Souverän?

Mit dem Begriff der Souveränität haben wir ein geeignetes analytisches Instrument in der Hand, um Demokratische Schulen von sämtlichen anderen Schulmodellen zu unterscheiden. Wir müssen lediglich darauf schauen, wer der Souverän einer Schule ist.

Liegt die Souveränität einer Schule bei ihrem Träger, sei es ein gemeinnütziger Verein, eine privatwirtschaftliche GmbH oder eine staatliche Behörde? Liegt sie bei einem Direktor oder einer erweiterten Schulleitung? Liegt sie bei einem pädagogischen Team oder bei den Eltern? Oder in der Schulgemeinschaft selbst? Und welche Rolle spielt dabei die Schulversammlung?

Den Souverän einer Schule zu lokalisieren, ist nicht immer leicht. Ein Indiz dafür, dass man es mit dem Souverän zu tun hat, besteht darin, dass man unwillkürlich ein Gefühl des Respekts verspürt, wenn man ihm begegnet. Um das zu verstehen, ist es hilfreich, sich das Beispiel eines Königs vor Augen zu halten. Der König ist schließlich der Inbegriff eines Souveräns. So wie die Menschen in früheren Zeiten dem König ihre Ehrerbietung erwiesen haben, so spüren wir heute immer noch eine gewisse Ehrfurcht (oder auch Furcht), wenn wir dem Souverän gegenüberstehen. Dieses Gefühl kennen all diejenigen unter uns, die als Schüler an einer staatlichen Schule schon einmal zum Direktor gerufen wurden. Der Direktor einer staatlichen Schule – ob streng oder wohlwollend, unnahbar oder gutmütig – strahlt offenbar eine gewisse Autorität aus und kann qua Amt bestimmte Entscheidungen nach seinem Gutdünken treffen. Es liegt daher nahe, in ihm den Souverän der Schule zu vermuten.

Tatsächlich dürften allerdings noch weitere Akteure am Souverän einer staatlichen Schule beteiligt sein: angefangen von den staatlichen Aufsichtsbehörden bis hin zu gesetzlich vorgeschriebenen Gremien, an denen letztlich auch ein paar Schüler beteiligt sind. Der Einfluss der Schülerinnen und Schüler auf ihre unmittelbare Lebensumwelt ist dabei allerdings so gering, dass man kaum noch von einer wirksamen Teilhabe am Souverän sprechen kann.

An Freien Alternativschulen ist die Situation unübersichtlicher. Da sie üblicherweise auf die Ausübung von Amtsautorität verzichten und den Kindern auf Augenhöhe begegnen wollen, ist der Souverän weniger leicht zu erkennen. Das kann manchmal zu einem Problem werden, denn ohne eine eindeutige Verortung des Souveräns geht die Orientierung verloren. Liegt die Souveränität einer Freien Alternativschule beim pädagogischen Team? Oder der Geschäftsführung? Liegt sie in der Mitgliederversammlung des Trägervereins? Bei den Eltern, welche die Schule gegründet haben? Und wie stark sind die Schülerinnen und Schüler tatsächlich am Souverän beteiligt? Ich hielte es für sinnvoll, wenn jede einzelne Schule für sich klärt, wer ihr Souverän ist.

Der Anspruch einer Demokratischen Schule sollte sein, alle Teilnehmer der Schule wirksam am Souverän zu beteiligen – und dazu gehören insbesondere die Schülerinnen und Schüler. Es gibt mehrere Möglichkeiten, diese Beteiligung am Souverän zu organisieren. Ein Instrument spielt dabei sicherlich eine herausragende Rolle: die Schulversammlung. Hat die Schulversammlung keinerlei Bezug zum Souverän und ist sie nicht ausreichend mächtig, so ist fraglich, ob man noch von einer Demokratischen Schule sprechen kann. ■

Henning Graner

ist Mitbegründer einer Demokratischen Schule und Co-Autor der Videodokumentation Sudbury-Schulen (erschienen im tologo verlag).

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