Mehr als 10 Jahre »Unschooling« in Deutschland – Ein Rückblick und ein Ausblick

Seit zehn Jahren berichtet das unerzogen Magazin regelmäßig auch über schulfreie Bildung. Ein würdiger Anlass, um die Entwicklungen seither Revue passieren zu lassen, der wichtigen Meilensteine zu gedenken und einmal genauer zu analysieren, in welchem Zustand sich Freilernen heute befinden und was wir in Zukunft erwarten dürfen.

Stefanie Weisgerber

Noch ehe mit der Start-Ausgabe 0/2007 das erste Mal über Unschooling im unerzogen Magazin berichtet wird, taucht das Phänomen, das inzwischen meist »Freilernen« genannt wird, erstmalig im Jahr 2001 in der deutschen Presse auf. Damals in einem erstaunlich wohlwollenden Artikel in der Welt über den ungewöhnlichen Bildungsweg der heute in Freilerner-Kreisen bekannten Familie Wolf. Die drei ältesten Söhne der Familie sind im Artikel noch 13, 11 und 9 Jahre alt. Der Journalist Burkhard Strassmann beschreibt: »Die drei Jungen beeindruckten selbst Behördenmenschen mit ihrem Selbstbewusstsein, ihrer Fantasie und ihrer Kompetenz. Sie vermittelten nicht den Eindruck, unter Nichtbeschulung und entsprechenden Defiziten zu leiden.«

In einem Artikel von Ende 2004 im weniger wohlwollenden Spiegel berichtet dieser dann erstmals über die heute ebenso bekannte Familie Kern als aktive Freilerner mit einer selbstgegründeten und nicht autorisierten Alternativschule namens »Katzenhäusle« in der die Kinder bestimmen, womit sie sich beschäftigen möchten. Hier erklärt Autor Volker ter Haseborg noch überzeugt: »Trotzdem dulden die Schulämter das illegale Treiben vielerorts, weil sie Polizeieinsätze und Prozesse scheuen. Die Leidtragenden sind dann die Kinder, denn ohne Schulabschluss gibt es schwerlich eine Lehrstelle und kaum einen Studienplatz.« Wahrscheinlich würde ter Haseborg inzwischen selbst über seine Worte von damals schmunzeln, wenn er Menschen wie Malchus Kern heute betrachtete. Wenn er sich vor Augen führte, dass zahlreiche, schulfrei lebende junge Menschen von den beiden Eltern Kern bereits erfolgreich darin unterstützt wurden, einen externen Schulabschluss zu machen. Im Jahr 2006 tauchen dann auch erstmalig die Neubronners in der Presseberichterstattung auf, die bis heute als Deutschlands bekannteste Schulverweigerer gelten.

Langsam aber sicher nehmen die Medien das Thema interessiert auf. Immer wohlwollender werden diese Sonderlinge unter den schulverweigernden Familien portraitiert. Immer wieder wird lobend hervorgehoben, wie sehr sie sich unterscheiden von den religiösen Fundamentalisten, welche zuvor mit Homeschooling in Erscheinung traten, das so gar nichts mit dem vom Kind selbstbestimmten, meist informellen Lernen bei Unschooling gemein hat. Die Presse nimmt hier von Anfang an eine differenzierte Betrachtung vor. Mit dem Soziologen Thomas Spiegler und dem Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin treten auch erstmals deutsche Forscher auf, die das Thema Home Education insgesamt untersuchen und für eine gesellschaftliche Öffnung eintreten. Der Bericht des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung Vernor Muñoz wird im Jahr 2007 kontrovers diskutiert. Darin moniert Muñoz unter anderem die restriktive deutsche Schulpflicht, mittels derer alternative Lernformen wie Hausunterricht kriminalisiert werden.

Aus »Unschooling« wird »Freilernen«

Bereits im Jahr 2000 formiert sich in Deutschland die Initiative für selbstbestimmtes Lernen. Daraus geht 2002 der Bundesverband Natürlich Lernen e. V. (BVNL) hervor, der dafür eintritt, dass junge Menschen selbst nach ihren Fähigkeiten und Neigungen entscheiden können, wie sie sich bilden wollen – auch abseits von Schule.

Befeuert wird diese Bewegung anfangs vor allem noch mit Material aus dem bildungsliberalen Ausland. Das Phänomen »Unschooling«, das auf den amerikanischen Pädagogen John Holt zurückgeht. wird in zahlreichen Fachartikeln und Vorträgen beleuchtet. Unter anderem auch im unerzogen Magazin. Zudem werden zu dieser Zeit zahlreiche englischsprachige Bücher über Unschooling ins Deutsche übersetzt und hier zu Lande verlegt. Die langjährigen Erfahrungen von Personen wie Sandra Dodd, Leslie Barson oder Mary Griffith, aber auch die Studien des Bildungspsychologen Alan Thomas, prägen für einige Jahre deutlich das Bild über informelles, kindgesteuertes Lernen in Deutschland. Frühe deutschsprachige Werke wie Denn mein Leben ist Lernen von Olivier Keller und Schulfrei von Stefanie Mohsennia stellen eher Ausnahmen dar. In den nächsten Jahren wird das Ganze allmählich ergänzt durch Berichte deutscher Familien, die aus Bildungsgründen ins Ausland gehen. Zudem wächst das Interesse am Thema in Deutschland gleichzeitig mit der Attachment Parenting- und Bedürfnisorientierungs-Bewegung. Das Bild, das dabei über die Jahre gezeichnet wird, ist überdeutlich: Unschooling funktioniert. Es hat seine Berechtigung. Es bietet vielfältige Vorteile. Wer eine erziehungsfreie Haltung zu seinen Kindern einnimmt, der belehrt sie nicht. Schließlich bildet sich nach und nach auch eine eigenständige Szene in Deutschland heraus. Freilernen etabliert sich zunehmend als Begriff und löst Unschooling sukzessive ab. Zahlreiche Regionalgruppen mit regelmäßig stattfindenden Freilerner-Treffen werden gegründet, diverse Facebook-Foren eröffnet.

Der Weg ins Ausland erscheint vielen Freilernern immernoch eine gute Lösung. Heute jedoch mehr als Reisende ohne festen Wohnsitz.

Was zunächst noch nach einer weitgehend geschlossenen Gemeinschaft aussieht, entpuppt sich bald jedoch als ein Sammelbecken von unterschiedlichster zum Teil gar gegensätzlicher politischer und weltanschaulicher Überzeugungen. Da sind die freigeistigen Künstlertypen, die links-progressiven Weltverbesserer, die rechts-esoterischen Skeptiker, die hypersensiblen Einsiedler, zahlreiche Lehrer, Erzieher, Pädagogen, die von innen heraus die Tücken des Schulsystems zu spüren bekommen.

Zu gleichen Teilen finden sich pessimistische Haderer, die sich in Deutschland politisch verfolgt fühlen und auf Facebook, YouTube sowie in neurechten Magazinen davon berichten, dass Deutschland ein Schurkenstaat mit totalitären Strukturen sei, vergleichbar z. B. mit Nordkorea. Ein Land, in dem Kinder planmäßig zu gleichgeschalteten Sklaven der Wirtschaft erzogen würden und Freilerner-Familien gezwungen seien, ins Ausland zu fliehen oder sich zu Hause versteckt zu halten. Und da sind die eher optimistischen Pragmatiker, die versuchen eine glimpfliche Lösung mit den Behörden herzustellen. Die sich für Bußgelder-Sammelaktionen einsetzen oder auch, wenn sie eine nicht-offizielle oder – sagen wir mal – teil-legale Lösung in Deutschland wählen, darauf achten, ihr Leben und das ihrer Kinder nicht zu stark einschränken zu lassen und ein relativ freies Dasein mit vielen wohlgesonnen Mitwissern zu führen, zum Teil sogar still von den zuständigen Behörden geduldet.

Aufwind in der Presselandschaft und Ausdifferenzierung

In der allgemeinen Presseberichterstattung erlebt die Freilerner-Szene über die Jahre zunehmend Verständnis und einen stetigen Sympathiezuwachs. Immer mehr Zeitungen titeln: »Schafft den Schulzwang ab!« , » Warum ist die staatliche Schulpflicht unnötig? « » Erfolgreich lernen ohne Schule « oder » Heim-unterricht muss erlaubt sein «. 2009 und 2010 sind zwei Jahre in dem besonders viel zum Thema geschrieben und gesendet wird. Zum einen scheitert die Familie Neubronner mit einer Klage gegen die Schulpflicht vor dem Oberverwaltungsgericht Bremen. Zum zweiten tritt André Stern, Sohn des Malorterfinders Arno Stern, der ihm ganz bewusst in den 70er und 80er Jahren ein Aufwachsen ohne Schule in Frankreich ermöglichte, vermehrt an die Öffentlichkeit und findet in vielen Artikeln und Berichten Erwähnung. Zum dritten macht der Fall der christlichen Homeschoolerfamilie Romeike Schlagzeilen, die in den USA erfolgreich Asyl gewährt bekommt, da sie sich in Deutschland politisch durch die Schulpflicht verfolgt fühlt. Zwischendrin immer wieder Berichte unterschiedlichster Freilerner-Familien, die von ihren erstaunlichen Lebensumständen und Lernmodellen berichten und von der Medienlandschaft zumeist sehr positiv dargestellt werden.

Vor 2012 gibt es einige Versuche unter dem Stichwort »Home Education« alle Facetten schulfreier Bildung zu vereinen. Hieraus resultiert in Deutschland unter anderem das Netzwerk Bildungsfreiheit und das europäische Netzwerk TENHE. Hier kristallisiert sich aber bald heraus, dass sich Homeschooling und Freilernen ideologisch sehr schlecht miteinander in Einklang bringen lassen. Ende 2012 gibt es zum ersten Mal deutlich verstimmte Töne in größerem Maß, was auch von der Presse nicht unbemerkt bleibt. Im November 2012 wird in Berlin die Global Home Education Conference abgehalten. Federführend dabei vor allem die HSLDA, ein amerikanischer Lobbyverband von evangelikal motivierten Anwälten für elternfreundliche Homeschooling-Gesetzgebung. Menschen, die offen dafür eintreten, ihre Kinder ungehindert züchtigen zu dürfen. Denen Emanzipation und gleichgeschlechtliche Beziehungen ein Gräuel sind. Die durch Fantasy-Literatur und Popmusik ihre Kinder dämonischen Einflüssen ausgesetzt sehen.

Viele der liberal orientierten, kinderrechtlich argumentierenden Freilerner distanzieren sich daraufhin von der Veranstaltung und rufen teilweise dazu auf, von einer Teilnahme abzusehen. Darunter auch der BVNL, die deutsche Vertretung der Clonlara-Schule oder der Otherwise Club aus Großbritannien. Unter anderem gerät auch Dagmar Neubronner, die zu den Mitorganisatoren der Veranstaltung gehört, in scharfe Kritik, da sie hier zweifelhafte Schützenhilfe leiste, für Menschen, denen es nicht im geringsten um kindliche Selbstbestimmung geht, sondern im Gegenteil um ein knallhartes Durchdrücken von Elternrechten auch gegen den ausdrücklichen Willen ihrer Kinder. Auf eine kritische Nachfrage hierzu in einem Interview mit Deutschlandfunk erklärt Dagmar Neubronner: »Es gibt dieses wunderbare Gedicht von Niemöller, der gesagt hat, als sie die Kommunisten verhaftet haben, habe ich stillgeschwiegen, denn ich bin kein Kommunist, und als sie die Katholiken verhaftet haben, habe ich auch nichts gesagt, und so weiter und so weiter – als sie dann zu mir kamen, war niemand mehr da. Und diese Aufspaltung in, ja, wir wollen alle Bildungsfreiheit, aber wir wollen dann unseren Kindern das und das beibringen und ihr wollt was anderes, die können wir uns im Moment überhaupt nicht leisten.« Ein Opportunismus, der Dagmar Neubronner in der Szene bis heute stark verübelt wird. Von da an tritt sie bis zum heutigen Tag auch häufig als Referentin und Interview-Partnerin im Rahmen der rechtsesoterischen Verschwörungstheoretiker- und Staatsleugner-Szene auf.

Auch abseits derartiger Ex- treme zeigt sich jetzt eine stärkere Ausdifferenzierung innerhalb der Freilerner-Bewegung. Mit der Freilerner-Solidargemeinschaft gründet sich 2012 ein Verein, der junge Menschen aktiv darin unterstützt, in Deutschland selbstbestimmt einen Bildungsweg ohne Schule gehen zu können. Hierfür werden seither gezielt Gelder gesammelt, um Anwalts- und Gerichtskosten zu bezahlen, Beratungen werden angeboten, Behördengesprächstrainings durchgeführt und wissenschaftliche Kolloquien rund um Schulverweigerung und selbstbestimmtes Lernen veranstaltet. Zuletzt 2017 in Gießen mit über 70 Teilnehmern und mit einer daraus resultierenden Zusammenarbeit mit der juristischen Fakultät der Universität Gießen für das kommende Kolloquium in 2018. Beim Bundesverband natürlich Lernen e. V. hingegen kommt es nach einigen Meinungsverschiedenheiten zu einer Abwanderung einiger zuvor sehr aktiver Mitglieder, wodurch der heutige aktive Kern des BVNL inzwischen nur noch weitgehend in Ostdeutschland agiert, dort aber sehr schlagkräftig auftritt und etliche Veranstaltungen realisiert und wertvolle politische Arbeit leistet. Mit Septré entsteht ein Verein junger, schulfrei lebender Menschen, die seit 2008 regelmäßige Treffen veranstalten und seit 2013 auch das kontinuierlich wachsende Schulfrei-Festival organisieren auf dem in 2017 bereits rund 1.500 Menschen gezählt werden.

Die Freilerner-Szene erlebt in der Presse zunehmend Verständnis und Sympathiezuwachs.

Im Jahr 2016 schließlich gründet sich in Karlsruhe mit der Schulfrei-Bewegung ein weiterer Verein, dessen Arbeitsweise vor allem auf Facebook immer wieder kontrovers diskutiert wird.

Autodidakten und Aussteiger

In der Presse häufen sich ab 2013 nun auch Berichte über externe Schulabschlüsse, die von Freilerner-Kindern mit guten und sehr guten Noten absolviert werden. Zunächst schafft Moritz Neubronner seinen Realschulabschluss mit 1,4. Sein Abi legt er 2015 mit Note 2,5 ab, was zu einem breiten Medienecho führt. Esra, Sohn der reisenden Fotografenfamilie Reichert, schafft im selben Jahr sein externes Abitur sogar mit 1,8.

Beflügelt durch die bislang weitgehend positive Medienberichterstattung und dank der inzwischen sehr guten Vernetzungsstrukturen im Internet mit Seiten wie der Schulfrei-Community oder European Learning (kurz Eu-Le) kommen inzwischen immer mehr Familien, vor allem auch mit noch jungen, nicht schulpflichtigen Kindern, zu Freilerner-Treffen überall in Deutschland und informieren sich frühzeitig, wie sie die Schulpflicht umgehen können. Der Weg ins Ausland scheint dabei oft besonders einfach. Gibt es zunächst viele Familien, die einen einmaligen Umzug ins Ausland an einen neuen, festen Wohnsitz realisieren, zeigt sich seit ein paar Jahren eher die Tendenz, dass viele dieser Familien versuchen, ein ortsunabhängiges Online-Business zu realisieren, um davon herumreisend leben zu können. Besonders beliebt dabei: Coachings, Lebensberatung, Ernährungstipps, Internetblogs mit Werbefinanzierung. Diese Reisefamilien leben dabei häufig in Wohnmobilen, verbringen den Sommer in Deutschland und den Winter in Portugal, Spanien, Marokko oder fliegen ins Ferienressort nach Thailand. Es entstehen ganze Businesszweige, die versuchen aus dieser Bewegung Kapital zu schlagen. Objektiv betrachtet natürlich ein riesiges Schneeballsystem mit wenigen Gewinnern und vielen Verlierern. Inzwischen gibt es immer wieder Fälle von gestrandeten Aussteiger-Familien ohne einen Cent Geld in der Tasche und ausgebrannten Bildungsflüchtlingen, deren Kinder zurück in Deutschland nun die nächstbeste Waldorf-Grundschule besuchen, während die Eltern desillusioniert in ihre alten Berufe zurückkehren oder sich hier irgendwie durchzumogeln versuchen. Es kommen aber auch zunehmend Menschen zurück, die darüber klagen, dass sie aus den falschen Gründen aus Deutschland weggegangen seien. Dass sie sich wie auf der Flucht fühlten. Dass ihnen und ihren Kindern unterwegs der regelmäßige Kontakt zu anderen fehlte und dass ihnen die Annahme der neuen Lebensumstände schwerer gefallen sei, als zuvor angenommen.

Ein anderer Trend, der sich erkennen lässt, ist der Boom von Freien Schulen. Inzwischen gibt es unzählige Gründungsinitiativen, an denen neben der steigenden Anzahl von »Überzeugungstätern« auch viele Menschen mitwirken, die eigentlich freilernen möchten, dann aber letztlich doch diesen einigermaßen sicheren Kompromiss wählen oder versuchen ihre Kinder an einer der bereits bestehenden Alternativschulen unterzubringen.

Wann fällt die Schulpflicht?

Seit Jahren hält sich in der Freilerner-Szene das Narrativ, dass die Schulpflicht sich bald erledigt haben müsse. Es interessieren sich mehr und mehr Familien für dieses Thema. Internationale Forschungsergebnisse sprechen eine klar positive Sprache. Die inzwischen erschienenen juristischen Abhandlungen von Tobias Handschell (2012) und Julian von Lucius (2017) hinterfragen in aller Deutlichkeit die Rechtsgültigkeit der Ausgestaltung von Schulpflicht in Deutschland. In der Öffentlichkeit wird Schulkritik harscher denn je geübt und immer noch erscheinen zahlreiche positive Medienberichte zum Freilernen – wenn auch die Darstellung hier deutlich differenzierter wird. Inzwischen bemerken Pressevertreter zunehmend, dass es auch in der klar vom christlichen Homeschooling abgegrenzten Freilerner-Szene solche und solche gibt. Neben den durchweg gut wegkommenden, eher links-alternativ angehauchten, zum Teil bildungsbürgerlichen Familien werden eben auch die vielen staatskritischen, zurückgezogen lebenden, latent paranoiden bis hin unverhohlen systemfeindlichen Familien wahrgenommen. Die esoterische, reichsbürgerliche, rechtskonservative Schlagseite, die Freilernen eben auch hat. Auch religiös-motivierten Homeschooling-Anhängern aller Couleur ist natürlich nicht verborgen geblieben, das Freilernen in der deutschen Öffentlichkeit deutlich positiver wahrgenommen wird, weshalb sich unter dem Deckmantel der vermeintlichen Selbstbestimmung junger Menschen eben auch einige trojanische Pferde befinden dürften und auch grundlegende paternalistische Tendenzen, die nichts mit religiösen Motiven zu tun haben, sich hier niederschlagen. So verwundert es eben doch nicht weiter, dass die Politik bis heute nicht die geringsten Anstalten macht, dieses heiße Eisen anzufassen, wenn auch Ausarbeitungen des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages belegen, dass einige Politiker sich durchaus mit dem Thema auseinandersetzen.

Gäbe es heute nicht die großen gesellschaftlichen Probleme wie die Flüchtlingskrise, den rasante Aufstieg der AFD, das zunehmende Erstarken von Populismus überall in der Welt, die generellen Ängste vor dem noch ungewissen und doch unaufhaltsamen Systemwandel durch die Digitalisierung und die konkrete Angst, die daraus logischer Weise hervor geht, jetzt ausgerechnet das Bildungswesen zu liberalisieren, wo die Demokratie in Deutschland wieder unmittelbar gefährdet scheint – die harte Schulpflicht in Deutschland wäre bei dem medialen Druck, der evidenten Forschungslage, dem juristisch alles andere als eindeutigen Verhältnissen unter Einführung einer staatlichen Kontrolle für schulfrei lebende Kinder sicher schon längst gekippt. Bedauerlicherweise bloß hat die Freilerner-Szene hier ein denkbar schlechtes Timing erwischt und schafft es bis heute nicht ihre Kräfte gezielt zu bündeln, um endlich schlagkräftig auf die Politik einzuwirken.

In der Öffentlichkeit wird Schulkritik harscher denn je geübt.

Ein Trost mag es jedoch sein, dass der Weg des zivilen Ungehorsams in Deutschland nach wie vor einiges an Potential bietet. Zwar zeigt sich inzwischen die Tendenz, dass Jugendämter heute sehr viel schneller die Familiengerichte anrufen als noch vor ein paar Jahren, dies ist aber in erster Linie wohl so zu verstehen, dass die Ämter in punkto möglicher Kindeswohlgefährdung auf Nummer sicher gehen und frühzeitig abklären wollen, waren sie doch bei Fällen wie dem Mord an Jessica in Hamburg 2005 zu Recht in harsche Kritik geraten. Auch in Fällen, wo Teile der elterlichen Sorge wie das Aufenthaltsbestimmungsrecht oder das Recht über die Bestimmung von schulischen Angelegenheiten entzogen wurde, wird dies heute auf der oberlandesgerichtlichen Ebene meist erfolgreich angefochten und an die Eltern zurückgegeben. Ebenso wird eine Art von Ersatzbeschulung – zum Beispiel durch Clonlara – von einigen Ämtern und Gerichten inzwischen anerkannt. Natürlich bleibt dies trotzdem auch heute noch ein Weg der viel Mut und Durchhaltevermögen kostet, ein wenig glücksabhängig davon ist, auf wen man auf der Gegenseite trifft und einige persönliche, wie materielle, Ressourcen benötigt. Aber immer mehr Menschen trauen sich diese Schritte in Deutschland zu gehen. Nach Angaben der Freilerner-Solidargemeinschaft suchen jedes Jahr zwischen 50 bis 70 Familien hier Beratung und in sechs Jahren Vereinsarbeit wurden über 100 Fälle begleitet, in denen es zu Behördenkontakten und Gerichtsverhandlungen in unterschiedlicher Intensität gekommen ist.

Junge Menschen, die den Behörden glaubhaft vermitteln können, dass sie aus freiem Wunsch die Schule verweigern, dennoch gut gebildet und gesellschaftlich integriert sind und sich zudem kompetente Hilfe holen, haben heute in Deutschland kaum noch schwerwiegende Repressalien zu befürchten. Der große Weg über die Politik scheint momentan versperrt, wo sich kaum eine »große« Koalition noch auf irgendetwas wichtiges zu verständigen vermag, aber der kleine Weg des Individuums – der des differenziert betrachteten Kindeswohls – ist erfolgsversprechender denn je. Ausnahmen von der Schulpflicht sind bereits nach heutiger Gesetzeslage in fast allen deutschen Bundesländern möglich und es ist nur eine Frage der Zeit, bis endlich der ersten Freilerner-Familie hier offiziell Recht zugesprochen wird. ■

Stefanie Weisgerber

ist 38 Jahre alt und Mutter einer fast fünfjährigen Tochter und eines fast dreijährigen Sohnes. Sie ist Betreiberin der Website www.freilerner-kompass.de, organisiert seit 2017 regelmäßig Freilerner-Treffen in NRW und erkundet die deutsche Freilerner-Szene intensiv seit 2014.

Quellen

Alle hier zitierten Artikel finden sich im Medienarchiv der Schulfrei-Community: schulfrei-community.de/zeitungsartikel oder in unseren Ausgaben (für Abonnenten kostenlos): www.unerzogen-magazin.de/hefte.

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